Interview: Karin Scheidegger
Karin Scheidegger, freischaffende Fotografin und Englischlehrerin, hat zahlreiche nationale und internationale Fotoprojekte durchgeführt. Momentan arbeitet sie an einem Kunstprojekt mit Jugendlichen aus Andhra Pradesh. Im Frühjahr 2013 reiste sie deshalb zum zweiten Mal nach Indien.
ACTARES: Durch Ihr Fotoprojekt in Indien hatten Sie eine Begegnung der etwas speziellen Art mit Ambuja Cements, einer Tochterfirma von Holcim. Können Sie uns einen Überblick über die wichtigsten Ereignisse geben?
Karin Scheidegger: Ich war mit meinem lokalen Fahrer in Chhattisgarh unterwegs, um Bilder der lokalen Bevölkerung und ihrem Alltag zu schiessen. Deshalb fotografierte ich auch Arbeiter vor den Toren des Zementwerks. Dies war der Anfang einer Kette schockierender Ereignisse: Erst wurden wir vom Sicherheitspersonal angewiesen, dass wir da nicht fotografieren dürften und uns mindestens 500 Meter vom Fabriktor entfernen müssten. Dann wurden wir von denselben Männern verfolgt und bedroht, mein Fahrer wurde sogar geschlagen und gedemütigt. Als wir die lokale Polizei aufsuchten, weigerten sich die Beamten, eine Anzeige gegen das Ambuja-Sicherheitspersonal aufzunehmen. Nur dank der Unterstützung von Angehörigen des Dorfparlaments und unabhängigen Journalisten wurde die Anzeige schliesslich akzeptiert. Das Pünktchen auf dem i war, dass das Unternehmen als Retourkutsche eine frei erfundene Anzeige wegen rechtswidrigen Eindringens ins Firmenareal gegen uns machte.
Wie schätzen Sie die Auswirkungen von Ambuja Cements’ Verhalten gegenüber der lokalen Bevölkerung ein?
Bei Ambuja Cements werden bevorzugt Leiharbeiter eingestellt, obwohl das indische Gesetz vorsieht, dass der Grossteil der Arbeiterschaft direkt beim Unternehmen angestellt sein muss. Leiharbeiter werden oft über Jahre ausgebeutet. Sie erhalten einen Bruchteil des normalen Lohns, der kaum zum Leben reicht, ohne Sozialleistungen oder Krankentaggeld. Ausserdem beraubt das Unternehmen durch die rücksichtslose Ausweitung des Firmenareals die Dorfgemeinschaften um ihre Waschplätze und gefährdet damit ihre Gesundheit. Den Bauern wird das Grundwasser abgegraben, wodurch sie oft ebenfalls zur Leiharbeit gezwungen werden.
Zurück in der Schweiz nahmen Sie Kontakt mit Holcim auf und verlangten eine Stellungnahme zu den Vorfällen in Indien. Was ist seither passiert?
Ich erhielt einen Untersuchungsbericht, in welchem Mitarbeiter des Zementwerks die falschen Anschul-digungen gegen uns bezeugten. Der Mann einer Dorfpolitikerin, die mich auf dem Polizeipräsidium unterstützt hatte, wurde von Ambuja Cements fristlos entlassen. Er arbeitete seit vielen Jahren als Leiharbeiter für das Unternehmen. Mein Fahrer musste vier Mal vor dem Richter erscheinen und wurde im September dazu angehalten, seine Klage zurückzuziehen, wenn er keine weiteren Probleme wolle. Immerhin wurde auch die Anzeige gegen ihn fallen gelassen.