Interview: Anja Derungs
Anja Derungs leitet seit 2012 die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Seit einem Jahr präsidiert die Mediatorin die Schweizerische Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten (SKG). Mit dem Nationalen Barometer zur Gleichstellung 2018 liess die SKG erstmals die Wahrnehmung der Schweizer Erwerbstätigen zum Stand der tatsächlichen Gleichstellung im Erwerbsleben erheben.
Welche Felder behandelte der nationale Barometer zur Gleichstellung, und wo besteht gemäss den Befragten der grösste Handlungsbedarf?
Wir haben auf den Stand der tatsächlichen Gleichstellung im Erwerbsleben fokussiert – mit einem Schwerpunkt auf Lohngleichheit. Die Resultate lassen aufhorchen: Acht von zehn Frauen und Männern gehen davon aus, dass Frauen in der Schweiz für gleiche und gleichwertige Arbeit weniger Lohn als Männer bekommen. 40 % der Frauen hatten schon einmal den Eindruck, beim Lohn diskriminiert zu werden. Und ein Drittel der Erwerbstätigen geht davon aus, dass es in ihrem eigenen Betrieb Lohndiskriminierung gibt.
Auf welchen Stufen werden die grössten Lohnunterschiede vermutet, und wie reagieren Betroffene?
Lohndiskriminierung wird sowohl im unteren und mittleren Kader als auch bei Mitarbeiterinnen ohne Kaderfunktion vermutet. Als Handlungsmöglichkeit sehen die meisten Befragten das direkte Gespräch mit den Vorgesetzen und die Forderung nach einer Lohnerhöhung. Der Rechtsweg wird nur selten in Betracht gezogen, obwohl das Gleichstellungsgesetz Lohndiskriminierung explizit verbietet. Das erstaunt wenig: Der Rechtsweg ist mit Hürden verbunden – und auch mit der Angst vor einer Kündigung oder anderen Nachteilen.
Ein transparentes Lohnsystem kann der Lohndiskriminierung entgegenwirken. Wie transparent sind die Unternehmen diesbezüglich?
Gut die Hälfte der Befragten gibt an, in einem Betrieb mit nachvollziehbarem Lohnsystem zu arbeiten – am häufigsten Mitarbeitende aus der öffentlichen Verwaltung, den Sozialversicherungen, Erziehung und Unterricht. Ein solches System ist allerdings erst die halbe Miete, denn es braucht auch regelmässige Lohngleichheitsanalysen. Eine solche wurde nur bei 16 % der Befragten schon einmal durchgeführt. Da gibt es also noch viel Luft nach oben.
Welche Massnahmen haben Umfrage-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer zur Verbesserung der Lohngleichheit in der Schweiz vorgeschlagen?
Vorgeschlagen werden mehr Informationen für Arbeitnehmende und für Arbeitgebende, staatliche Kontrollen – oder eben, dass Unternehmen Lohnanalysen durchführen sollen. Ganz generell sprechen sich ganze 98 % der Frauen und 88 % der Männer für Massnahmen zur Verbesserung der Lohngleichheit aus. Das ist ein klares Statement und eine Aufforderung zugleich. Dieses eindeutige Ergebnis gilt es ernst zu nehmen.
Wie schätzten die Befragten die Chancengleichheit bei der Karriereentwicklung ein?
Knapp drei Viertel der befragten Frauen fühlte sich in ihrem Erwerbsleben schon einmal aufgrund des Geschlechts diskriminiert. Bei den Männern ist es knapp die Hälfte. Dass Frauen nicht dieselben Karrieremöglichkeiten haben wie Männer, vermuten 90 % der Befragten. Das deckt sich mit den reellen Gegebenheiten. Beispielsweise beläuft sich der Frauenanteil in den Geschäftsleitungen der 100 grössten Schweizer Firmen gemäss Schillingreport 2018 auf gerade mal 7 %.
Wie können sich Chancenungleichheiten und Lohndiskriminierung auf die Motivation der Mitarbeitenden und ihre Leistung auswirken?
Eine aktuelle Befragung der Equality and Human Rights Commission EHRC zeigt: Lohngleichheit wirkt sich direkt auf das Verhältnis der Angestellten zu ihren Arbeitgebenden aus – auf das Wohlbefinden und auf die Qualität der Arbeit. Berufstätige Frauen und Mütter werden für Unternehmen immer wichtiger. Unternehmen mit fairen Löhnen sind hier klar im Vorteil.