Experte: GV-Saison zum Vergessen
Die Schweizer Grosskonzerne haben im zweiten Jahr der Pandemie mehrheitlich enttäuscht. Ihr öffentlich betont zum Ausdruck gebrachtes Bedauern über die Distanz zu Kleinaktionärinnen und -aktionären stuft Wirtschaftsexperte Peter V. Kunz als unaufrichtig ein. Peter V. Kunz ist Wirtschaftsrechtsexperte, langjähriger Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern und habilitierte zum Thema «Minderheitenschutz im schweizerischen Aktienrecht».
Actares: Coronabedingt fand eine weitere GV-Saison ohne Publikum statt. Haben sich die Konzerne und die Kleinanlegerinnen und -anleger voneinander entfremdet?
Peter V. Kunz: Davon ist leider auszugehen. Und die Entfremdung ist gegenseitig. Die Konzernspitzen verlieren den Kontakt zur Basis – auch wenn dieser Kontakt nicht selten in unangenehmen Voten der Kleinanlegerinnen und Kleinanleger bestand. Umgekehrt schwindet die Loyalität der Anleger. Die GV ist ihr Happening, ein folkloristisches Element, das wegfällt. Die wichtigen Entscheidungen wurden schon immer mit den Grossaktionären vor der GV besprochen. Natürlich stehen die Manager – auch in der Pandemie – mit den Grossaktionären weiterhin in engem Kontakt. Früher mit gemeinsamen Nachtessen, zurzeit wohl über Videokonferenzen.
Actares: Wenn also Konzerne wortreich bedauern, dass sie ihre GV nicht physisch durchführen können, ist das mehrheitlich unehrlich?
Peter V. Kunz: Dass sie es bedauern, ist – etwas grob ausgedrückt – Blödsinn, behaupte ich. Die einzigen, die den Wegfall physischer GVs bedauern, sind wohl die Juristen, die in normalen Zeiten unzählige Anträge und Antworten als Reaktion für eventuell auftretende kritische Voten vorzubereiten hatten. Diese Arbeit hat sich dieses Jahr erübrigt, weil die Einflussmöglichkeiten der Aktionärinnen und Aktionäre stark eingeschränkt waren.
Actares: Kritische Stimmen drohen also zunehmend an Einfluss zu verlieren?
Peter V. Kunz: Ja, die Gefahr besteht. Denn den starken Aktionärsvoten vor teilweise über 1000 Personen und anwesenden Medien konnten sich die Konzernmanager nicht verschliessen. Solche Voten haben Gewicht, auch wenn sie nur in seltenen Fällen gemachte Meinungen umstossen können. Es ist wichtig, dass auch Minderheiten zu Wort kommen. Die Voten werden gehört. Das Machtungleichgewicht zwischen Management und Aktionariat könnte sich durch die Digitalisierung noch stärker akzentuieren, wenn keine direkte GV-Teilnahme möglich ist, wie 2020 und 2021 wegen COVID-19.
Actares: Neben der Möglichkeit, gehört zu werden, sind GVs ja auch ein Happening für Kleinanlegerinnen und Kleinanleger. Glauben Sie, dass die physischen GVs nach der Pandemie der Vergangenheit angehören werden?
Peter V. Kunz: Ich bin sicher, die meisten Konzernchefs wären froh. Auch aus Kostengründen, grosse GV-Veranstaltungen wie jene von UBS oder Novartis können Millionen verschlingen. Umgekehrt könnte die rein digitalisierte Veranstaltung mit Live-Stream – wie sie wohl von Organisationen wie Actares erwartet würde – zu zahlreichen Anfechtungsklagen führen, wenn technische Probleme auftauchen. Viele Rechtsfragen sind in diesem Bereich ungeklärt, und die Gesellschaften könnten aus solchen Gründen eine Präsenz-GV vorziehen.
Actares: Was wäre aus Ihrer Sicht ausserdem sinnvoll, um die Verantwortung in den Konzernen gegenüber der Gesellschaft und Umwelt weiter voranzutreiben?
Peter V. Kunz: Die öffentliche Stimme ist wichtig, auch wenn von den Grossen die Entscheidungen oft bereits im Voraus getroffen werden. Entscheidend sind aber auch Rechtsfälle, die von Organisationen oder Einzelpersonen aufgrund von aufsehenerregenden Ereignissen provoziert werden können. Das kostet zwar Zeit und Geld, bringt die Rechte der Aktionärinnen und -aktionäre aber voran. Grossaktionär Martin Ebner hat, auch wenn er nicht gerade in der Gunst der Öffentlichkeit stand, durch Prozesse gegen die Schweizerische Bankgesellschaft, heute UBS, schon vor mehr als 20 Jahren einiges in Gang gebracht – allerdings konnte er sich juristische Verfahren finanziell leisten, Kleinaktionäre können das in der Regel nicht.